Wir haben da einen Sänger
Es ist eine von diesen rundherum gut geplanten Veranstaltungen. Das Silberhochzeitspaar hat sich zum siebten Male neu in sich verliebt, und die Kinder, eigentlich schon lange aus dem Haus, erscheinen wieder mal im Haus und das in geschlossener Formation. Die Verwandtschaft aus Amerika ist da, die Nachbarn, der Chef mit Gattin, die Freunde von Schützenverein und Jesolo-Camping.
Fünf Kindeskinder kriechen umher zwischen Kabeln und Füßen des Alleinunterhalters, der peinlich genau darauf bedacht ist, bei aller Fill-in- und sonstiger Fußschalterbetätigung, den kleinen Plagegeistern nicht auf Hände oder sonstwohin zu treten. Wie gesagt, die Veranstaltung verläuft normal, und der Musikus hat sogar zum Abendessen einen nach ihm benamten Platz am Ende der Festtafel erhalten.
„Wie schön, lernen wir Sie auch einmal kennen?!“ Zu Rehbraten, Rotkraut und Kroketten die erwarteten Fragen nach Ausbildungs- und Familienstand, wo und wie oft und überhaupt. Bevor das Vanilleeis mit heißen Himbeeren aufserviert wird, begibt sich der Musiker wieder, unter Vorgabe eines Völlegefühls insgeheim aufatmend, in die freiwillige Isolation seines Arbeitsplatzes unter dem großen Hirschgeweih an der Stirnseite des rustikal möblierten Saales.
Die ersten Tanzrunden verlaufen wie im Fluge, und ein paar ganz Verwegene beginnen bereits sich an den Tischen zuzuprosten. Der taktischen Spontaneität der Einmannband ist es gutzuschreiben, daß sich die Gesellschaft zur Gänze erhebt und „Dreimal Hoch!“ auf das Jubelpaar ausruft. So schlagen die Stimmungswellen rapide höher, was folglich in einer ersten Schunkelrunde gipfelt.
Doch, was ist das? Der Musiker horcht auf. Ein Name. Ein Name setzt sich fort, von Tisch zu Tisch, von Mund zu Mund, erst leise, dann laut: „Helmut, Helmut!“ Wobei es einige noch für gut finden jede einzelne Silbe mit mehr oder weniger rhythmischem Händeklatschen zu unterbauen.
Zielsicher steuert der Hochzeitsjubilar Richtung Alleinunterhalter, im Schlepptau einen gestandenen Herrn undefinierbaren Alters, hirschledernes Beinkleid, Haferlschuhe, ein Lächeln, braungebrannt und breit von Berchtesgaden bis Kempten. „Wir haben da einen Sänger! Vielleicht können Sie ihn begleiten?“ Sagt’s und verschwindet wieder im Kreise seiner Lieben.
„Ich bin der Helmut!“ Hier bitte – das Mikrophon! „Was machen wir?“ Hmm, hmm. „Was spielen Sie?“ „Eigentlich alles außer Gothic Rock und so.“ „???“ Freddy! Man einigt sich auf erstens La Paloma, zweitens Schön war die Zeit und, als Zugabe, den Königsjodler (auweh!). Tonart? Helmut hört in sich hinein. Keine Antwort. Macht nichts. „Fangen Sie einfach an, ich komm’ schon ‘rein.“
Der Backgrounder ist sich seiner Sache relativ sicher, nicht aber Helmut, dessen erste Gesangszeile mit „Es steht ein Soldat am Wolgastrand“ beginnt. Tod dem Musikanten, der jetzt nicht schnell umdenkt. Es gelingt. Ce-Moll. Rhythmus freibleibend. Ohren und alles dem Interpreten, der erwartungsgemäß im Refrain eine Terz hinabtaucht. Applaus und Jubel ohne Ende. Super Helmut!
Der Rest ist eigentlich Formsache. Junge, komm bald wieder und Mamatschi erklingen wie bei einem eingespielten Team. Der Saal tobt. Daß Helmut die Liebe zum Gesang im Blut liegt, kann dessen Begleitmusikant im Hintergrund förmlich spüren. Spontane rhythmische Kreativität ist Sache des Augenblickes. Modulationen unterliegen dem Freigeist des Sängers! Das Publikum feiert diesen frenetisch mit Standing Ovations.
Helmut bedankt sich beim Musiker mit Tränen in den Augen. So gut und so schön wäre es noch nie gewesen und außerdem und so und wirklich … Shake Hands von Künstler zu Künstler!
La Paloma und der Königsjodler werden übrigens in ein paar Wochen nachgeholt. Denn Helmut hat seinen Alleinunterhalter bereits fest als Geburtstagsmusikanten engagiert. Er wird nämlich siebzig. Waaas? Eeecht? Siiiebzig?!? -psg-