Die Schlacht gegen das Kalte Buffet

Die Stunde der Wahrheit, so heißt es, schlägt für jeden Menschen einmal im Leben. Für den Alleinunterhalter schlägt sie mindestens einmal pro Woche: Nämlich zum Firmenabend, zum Geburtstag, zur Hochzeitsfeier – herrschaftliche Feudalsausen, die musikalisch zu umrahmen er die Ehre hat und woran er sich dann auftragsgemäß auch halten muß, selbst im Angesicht schlimmster Folter. Nirgends sonst ist der gemeine Musikus mehr seines Berufes Diener als beim Diner.

Marsgepowert im Verlauf einer dreiviertelstündigen Anfahrt, zwängt sich der rackschleppende Gute-Laune-Garant scheinbar mühelos durch schulterschmale Versorgungsgänge, erklimmt trotz schwerer Endstufe leichten Fußes Treppen mit Eiger-Nordwand-Gefälle, tanzt kofferbepackt über hawaiiwellenschlagende Teppichläufer, meistert tausend Meter Transportschikanen in fünf Durchläufen. Aufbau, Aufbau, Aufbau und – Mars, das war’s – die letzten Minuten lechzen nach Sauerstoffzelt und Liegewiese. Aber nein!

Schon öffnen sich Türen. Massen strömen. Kellner wieseln. Die Dezibelrate steigt auf siebzig und der Musikant in die Tasten. Schön! Schön leise! Ein Knurren. Nicht in der Anlage. Die Einmannband lächelt und spielt. Meldet insgeheim den Verlust von etwa viertausend Kalorien an. Ah, ja! Herr Ober – ein Wasser bitte. Danke. Kurze Rede. Kurze Rede (versprochen – ist nicht!): Lange Rede. Ungeduldiges Scharren läßt bereits die ersten Parkettsplitter auffliegen. Endlich – das Kalte Buffet!

Intro Piano. Augen glänzen. Stühle fallen. Zungenspiele. Krawatten, die offen und Unterkleider, die verstohlen gerichtet werden. Der Saal leert sich schnell. Füllt sich langsam. Vorspeisen. Hm. Die Forellenfilets sind kleiner als die am vergangenen Samstag. Die Croissants ein wenig hell. Melone mit Schinken. Hoffentlich bleibt noch etwas vom Krabbencocktail übrig. Krabbencocktail. Ein Schluck Wasser. Musicals plätschern, Gespräche plätschern, Teller leeren sich, entfernen sich. Kellner schenken nach. Weißwein oder Rotwein? Thank you, Miss Sophie!

Erste Tassen schweben dampfend durch die Schwingtür. Die Suppe! Der Blick des Musikus sucht angestrengt nach Abwechslung in den farbensprühenden Kaskaden des Kronleuchters. Zählt die Stuckornamente. Die Suppe! Hmmm. Myriaden von Aromaträgern überfallen mit grausamer Eindringlichkeit den einsamen Tastenfreund am Keyboard. Der Ösaphagus beginnt sein grausames Knebelspiel. Glutamatsüchtige Speicheldrüsen reagieren mit überwältigender Springflut. Die Suppe! Wer zählt die Einlagen, nennt die Gewürze? Ein Schluck Wasser – ein Moment der Schwäche nur – nein, niemand hat etwas bemerkt.

Unbarmherzige Menschen schlendern im Gespräch in Armeslänge vorbei am tapferen Alleinunterhalter, die Teller gefüllt mit krossem Spanferkel, saftigen Lendchen, lockendem Gänsebraten. Herzlose Welt! Sadisten! Folterknechte! „Schön spielen Sie!“ „Danke!“ Nur schön freundlich bleiben. Standhaft. Du kennst das doch! Der Magen läßt sich von der Erdanziehungskraft überwältigen und sackt rapide ab. Ein Augenblick der Leere im Vorgefühl auf das unvermeidbar Kommende in Gestalt des Firmenchefs: „Einfach Klasse, Ihre Hintergrundmusik! Sie können dann gern auch  ‘was essen, ich habe nämlich noch ein paar Leute zu ehren.“

Der Musikus dankt und richtet ihm das Mikrophon. Dann schleicht er sich zum Rand der Veranstaltung durch die Schwingtür und begutachtet den Rest vom Fest. Ein paar Scheibchen Leberpastete, eine gefüllte Eihälfte und zwei Teelöffel Geflügelsalat. Aber für ihn mehr als genug. Denn Auge in Auge eines drohend nagenden Ablebens hat er seinen Hunger doch schlicht und einfach … übergangen.    – psg –

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