Schau mal, die großen Lautsprecher
Jeder Mensch hat vor irgendetwas Angst. Sei es nun etwas, was krabbelt oder sich schlängelt, sei es Gewitterdonner oder Finanzamt oder auch einfach die Tatsache, daß einem der Himmel auf den Kopf fallen könne – vor dem berühmten Kloß im Hals ist niemand auf Erden gefeit. Auch der Musikus nicht, der mit einem undefinierbaren Gefühl in der Magengegend sich gegen vier sonnabendnachmittags die Zähne poliert, im Spiegel bekuckt und an der linken Schläfe wieder vier graue Haare mehr findet.
Ist alles eingepackt? Der Wackler am Mikrokabel repariert? Ersatzsicherung? Beginn neunzehn Uhr oder neunzehnuhrdreißig? Wie hießen die Leute wieder? Abfahrt.
Es regnet. Bereits nach einem halben Kilometer hängt die Lederjacke zuhause am Garderobenhaken und hundert Meter weiter werden auch Deo und Handtuch in den Wind geschrieben. Der mittags noch schnell von der Kassette abgeschriebene Text des neuen Klostertalerhits ruht auch still und fein am Schreibtisch neben der alten Olympia. Da liegt er gut. Ach ja – tanken nicht vergessen!
Das Nebenzimmer platzt aus allen Nähten. Mühsam kämpfen sich die Bedienungen durch die Stuhlreihen, neidvoll auf die drei Quadratmeter Bühne blickend, die für die Musik freigehalten wurden beziehungsweise im Moment noch eingenommen werden von Filmleinwand, Kinderhochstuhl, Gehhilfen sowie diversen Camcordern nebst Zubehör.
„Sie sind der Musiker? Brauchen Sie viel Platz?“ Höchst bereitwillig schleppend lichtet sich das Chaos auf dem Podest in einen meterhohen Stapel auf der rechten Seite der Bühne „wo aber noch genug Platz ist, oder?“ Natürlich wurde die Steckdose gleich mit zugebaut, die aber wieder freizulegen ist Sache des Spezialisten, also des Künstlers, allein.
„Sie spielen doch hoffentlich nicht zu laut??!“ Eine freundliche, silberlockige Dame Jahrgang Goldene Konfirmation sitzt einen Meter vorm Podium. Gütige Augen. Verkörperung der Sympathie. Großmutter. Und urplötzlich ist sie da, aus heiterem Himmel – die Angst des Musikers. „Nein, nein.“ Ein beruhigendes Lächeln, dem autogenes Training draußen am Wagen folgt. „Du kennst das, du kennst das!“
Alibimäßiges Vorspiel des nun sich abzeichnenden Dramas: Aufbau von Mikrophon- und Lautsprecherständern. Es bleibt ruhig. Nur vereinzelte Blicke zur Bühne. Keyboards. Akkordeon. Die Bedienung weicht zurück. Das Publikum bleibt im Gespräch. Ein etwa vierjähriges Blondgeschöpf strahlt den Transportesel an. „Maggft du Mufigg?“ Lautsprecher (die mit den Plastikdeckeln): Keine Reaktion!
Zitternd, mit abgewandtem Blick, schleicht sich der Musikus mit dem ersten Rack (Endstufe) zur Bühne. Abgestellt, ganz hinten. Gutgegangen. Rack Nummer Zwo (Mischpult), Anteilnahme im Eingang: „Sie sind sicher mit einem Bus da?“ „Obacht!!“ Das war die Bedienung. Weit aufgerissene Augen verfolgen den Gang des Kastenschleppers zur Bühne. Unsichere Blicke sichten in Handtaschen nach Watte und Oropax. Rack Nummer Drei (das letzte, Module und Effekte) auf das Podest. Die Racks aufeinander – der Moment der Wahrheit. Ein helles Stimmchen: „Mama, fau mal, die grofen Lautfprecher!“
Exodus. Das Stühlerücken beginnt. Betagte Gäste entschuldigen sich mit nächsttägigem Arztbesuch. Ein ungefütterter Wellensittich. Besorgte Eltern, die ihren neunzehnjährigen Sohn dringend von der Disco abholen müssen. Die Schar der Gäste dezimiert um zwei Fünftel. Der Musiker hat seine Angstpsychose und seinen Aufbau abgeschlossen. Erste Klänge untermalen das gesellschaftliche Ereignis.
„Sie können ruhig etwas lauter spielen!“ Die freundliche, silberlockige Dame Jahrgang Goldene Konfirmation sitzt immer noch einen Meter vorm Podium. Ihre ganze Sympathie gilt dem Musikanten. Er spielt nicht zu modern und – nicht zu laut. Aber das hat sie ja schon vorher gewußt. Der Musiker hat es ihr persönlich doch von Anfang an versprochen! – psg –