Soupe de Provence …
Wenn man eine Mutti hat, die gut kochen kann, hat man eigentlich für wenigstens die ersten fünfzig Jahre seines Lebens komplett ausgesorgt. Selbst, wenn man es ab Zwanzig vorgezogen hat einen eigenen Hausstand zu führen und sich dann irgendwann in den Dreißigern dazu entschließt in den Ehestand zu treten: Die Mutti bleibt die Mutti. Ausnahmslos wird ihre Kochkunst von niemandem übertroffen, auch von der Lebensallerliebsten nicht, selbst wenn die vielleicht irgendwann im Guide Michelin stehen mag und jede Woche dann regelmäßig im Fernsehen mit Wachtelbrüstchen jongliert.
Eine schlichte Nudelsuppen bei der Mutti schmeckt tausendmal besser als Rehmedaillons im Dreisterne-Restaurant, und gegen der Mutti ihre Krautwickel haben selbst feinkomponierte Lachsröllchen in Dillmousse null Chance. Warum das so ist, da hab ich wirklich keine Ahnung: Es ist eben so. Alles, was die Mutti kocht, schmeckt. Das hat schon immer geschmeckt und es schmeckt einfach immer.
Allerdings ist die Mutti auch gerne mal zu Experimenten in der Küche bereit. Da werden dann Rezepte ausprobiert, die sie von der Nachbarin, von Freundinnen erfahren oder aufgeschrieben bekommen hat. Als sie noch Dienst hatte, war für solche Sperenzchen freilich nur wenig Zeit, aber jetzt: „Versuch mal mein neuen Orangenkuchen! Magst meine frischen Quarktaschen probier’n, diesmal ganz ohne Zucker? Was sagst denn zu meinem neuen Apfelpudding?“.
Von der französischen Frühlingsrolle bis hin zum whiskyveredelten Weihnachtsstollen erlebe ich Innovationen fränkischer Hausmacherkost, deren Geschmackserlebnisse bis dato im Backröhrendunkel von Muttis Vierplattenherd ihre Existenz verschlummerten. Und wehe, du heuchelst Appetitlosigkeit vor: Dann kommt sie in der nächsten Sekunde mit Blutdruckmessgerät und Fieberthermometer und fühlt nach deinem Puls: „Du wirst mir doch nicht krank sein?“ Also wird hiervon noch gekostet, da ein Stückchen auf die Zunge gelegt und insgeheim sich vorgenommen in den nächsten Tagen wieder mal öfter das Fahrrad aus der Garage zu holen. Ich habe es ja schon gesagt: Bei Mutti schmeckt es immer.
Ich weiß nicht, welche überirdische Sternenkonstellation aus den Fugen geraten war, als Mutti jenes französische Rezept von irgendeiner ehemaligen Arbeitskollegin erhält: Soupe de Provence. Auf jeden Fall erzählte Mutti am Telefon ihrer Tochter, die sie vor Jahren meiner schützenden Obhut übergeben hatte, hellauf begeistert von der ausländischen Flüssignahrung. Allein schon die Aufzählungsdauer der Zutaten ließ bei der Telefongesellschaft die Sektkorken knallen: Unterm Strich ein mindestens halber Fischmarkt gepaart mit einem internationalen Kräuter- und Gemüsehandel.
Für Sonntag Mittag hat Mutti uns zum Essen bestellt – Soupe de Provence beziehungsweise Browongs auf gut Fränkisch. Beim Öffnen der Haustür hätte ich fast soeben die Marsellaise angestimmt, würde nicht mein Schwiegervater strahlend mir zuvorkommen: „Heut’ gibt’s wos Fein’s!“ In der Tat zieht durch das ganze Haus ein Duft von „Frongreisch“ – eine Hauch Fisch und Ozean, ein Lüftchen Thymian, Fenchel, Zitroniges und vieles mehr. Die veritablen Genüsse Muttis frankophiler Cuisine duften zum Greifen nahe.
Auf dem Wohnzimmertisch flackern schon blaue Kerzen inmitten des guten Porzellans, das Mutti extra vom Dachboden geholt und bestimmt doppelt heute morgen noch durchgespült hat. Neben den Tellern Servietten in den Farben der Tricolore: Wenn Mutti etwas organisiert, dann macht sie das perfekt! Weißwein, natürlich auch französischer: „Ich hab mir sag’n lassen, der passt am besten dazu.“ Dermaßen ein- und frohgestimmt, lassen wir uns voller Erwartung nieder zum Diner. Mutti, geschafft wie entspannt, kredenzt „Soupe de Provence“.
Ein köstlicher Duft schmeichelt den Geschmacksknospen zum bevorstehenden Gourmet-Erlebnis. Allerdings schwingt da irgend etwas mit, was mir aus früheren Tagen bekannt vorkommt. Mutti gibt die Suppe aus, reicht mir meinen Teller mit „Soupe de Provence“. Moment! „Des Blaue da drin, hm, ist des – Lavendel?“ Hausfräulich verbindlich: „Ja, in der Kräuterlist’n wor eine Brise Lavendel mit angeb’n“. Ich weiß bis heute noch nicht, warum ich nichts darauf sag.
Der Schwiegervater ist der erste, dem der Löffel aus der Hand fällt: „Äächpffst!“ Im nächsten Moment bekommt seine Serviette Arbeit und schwiegerväterliche Gesichtszüge zeigen eine bislang nie gesehene, erschüttert verkrampfte Mimik: „Wos is denn doo drinna?“ Meine Herzallerliebste, die eben den Mund über dem ersten Löffelvoll schließen wollte, zuckt zurück mit der Hand. Mutti hebt fragend den Kopf: „Wos is denn?“ – „Des konnst doch net ess’n, äh!“ Schwiegerpapa hat sich immer noch nicht von seinem Schrecken erholt und reibt sich die Zunge an der Serviette ab: „Des Zeug schmeckt doch wie Saafnparfüm!“
Vorsichtig kostet Mutti die „Soup de Provence“ und stellt lakonisch fest: „Du host Recht!“ Auch meine Liebste schmeckt an der Löffelspitze und legt rümpfend gleich wieder das Besteck hin. „Mama, do host irgendwos verkehrt gemacht!“ Nur unser Sohn mampft munter und unverdrossen weiter, denn erstens mag er überhaupt nie keine Suppe und zweitens sind Fischstäbchen sein absolutes Leibgericht. Aber der Rest der Familie hat jetzt den Salat. „Wos mach mer denn jetzt?“ „Also ich hab mich an die Beschreibung gehalten wie es im Rezept gestanden hat! Da war überall aufs Gramm genau angegeb’n, wie viel …“.
Mutti holt das Rezept inklusive Lesebrille und geht es, Punkt für Punkt laut vorlesend, noch einmal genau durch. Ein Teelöffel hier, fünf Gramm dort, fünf Gramm da. „Halt, wos ist denn des?“ Meine Angetraute wird neugierig: „Wos is’n, Mutti?“ – „No, do!“ – Ausgerechnet bei den zwei Gramm Lavendel hat sich irgendein Spritzer Flüssigkeit aufs Kochrezept verirrt und beim Eintrocknen von der Kugelschreibertinte aufgesogen: Beim ersten Hinsehen sieht es aus wie „Zwanzig“. Na bravo. Wer wollte der guten Mutti einen Vorwurf machen? Natürlich niemand. Selbst der Schwiegerpapa, der Feinschmecker, hat die Sache mit Humor genommen.
Für die Rühreier danach ist noch genug Öl von den Fischstäbchen für unseren Sohnemann in der Pfanne gewesen. Das hat aber, außer mir, glaub ich, niemand gemerkt in der ganzen Aufregung. Im Gegensatz zu meiner Liebsten weiß ich bis heute noch nicht, wie Lavendelsuppe schmeckt. Aber eigentlich kann mir das ja auch egal sein – in diesem Fall sowieso, denn so ab und zu mag ich, wie unser Sohn, unheimlich gern Fischstäbchen. -psg-